Die Schattenseiten

Die Reformation brachte Fortschritt in Kirche und Glauben, Armenfürsorge oder politischer Teilhabe – mit der Durchsetzung der lutherischen Lehre aber auch Intoleranz und Obrigkeitsgehorsam. Der Hexenwahn der Frühen Neuzeit fand auch in protestantischen Gebieten statt. Und noch über vierhundert Jahre später haben sich die Nationalsozialisten auf Luthers antijudaistische Äußerungen berufen.

Nicht nur Katholiken müssen draußen bleiben

Touristen in St. Pauli stehen staunend vor einer Kirche mitten im sündigen Getümmel. Neben Strip-Clubs, Transen-Strich und Live-Sex-Shows erhebt sich hier, in der Straße mit dem Namen „Große Freiheit“, seit gut 400 Jahren die katholische Kirche St. Joseph. Das ist kein Versehen, sondern eine direkte Folge der Reformation.

Sie liegt mitten auf dem Hamburger Kiez: die katholische Kirche St. Joseph. (Foto: Bernhard von Nethen)

Denn nach der Einführung der Reformation in Hamburg durften nur Lutheraner in Hamburg Kirchen bauen. Nur sie erhielten das Bürgerrecht und hatten die Erlaubnis, politische Ämter zu bekleiden. Alle anderen Konfessionen mussten draußen bleiben. Lediglich den Anglikanern gestattete der Rat, ein eigenes Gotteshaus zu bauen. Der Grund dafür aber lag weniger in religiöser Toleranz, denn in den attraktiven Geschäftsbeziehungen zu England.

Die kleine Michaeliskirche, Ausschnitt aus der Ansicht Hamburgs von J. Diricksen, Kupferstich, 1615. (Quelle: Staatsarchiv Hamburg, Inv.-Nr. 131-05=40/11)

Reformierte, Mennoniten und eben auch Katholiken siedelten sich gleich hinter der Grenze an – in der Stadt Altona. Diese gehörte damals noch nicht zu Hamburg, sondern zunächst den Schauenburger Grafen und dann zur dänischen Krone. Die Altonaer „Große Freiheit“ war also die große Religionsfreiheit – im Gegensatz zur lutherischen Eingeschränktheit.

Erst im 18. Jahrhundert erlaubte der Rat der Stadt private nicht-lutherische Gottesdienste. 1811 entstand mit der kleinen Michaeliskirche (heute: St. Ansgar) die erste katholische Gemeinde nach der Reformation. Und 1849 konnten dann Juden, Katholiken und Reformierte Bürger der Stadt Hamburg werden.

Damit erinnert bis heute die katholische St. Josephs-Kirche in der Großen Freiheit an eine Zeit der lutherischen Intoleranz in Hamburg.


Der Obrigkeitsgehorsam

In einer Predigt im Ersten Weltkrieg schwärmte der Hauptpastor am Michel, August Wilhelm Hunzinger, dass der Michel seine „heiligen Glocken“ hergeben müsse, damit daraus Kugeln werden, die „die Leiber unserer Feinde zerfetzen“. Solcherart Kriegspredigten protestantischer Pastoren waren keine Seltenheiten. Auch zählten sich später viele Pastoren zu den Anhängern Hitlers. Wie konnte das passieren? Es war das Finale einer Jahrhunderte alten Allianz von Staat und Kirche. Besonders die protestantische Gesellschaft war seit jeher von einer weniger kritischen Beziehung zu den Machthabern durchdrungen.

Der Ursprung liegt auch hier bei Luther. Seine biblische Hauptquelle während der Reformation war der Brief des Paulus an die Römer. Im 13. Kapitel ist dort zu lesen: „Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit, die nicht von Gott ist. (...) Wer sich nun der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebt Gottes Ordnung.“ Luther machte diese Verse zum Kern seiner reformatorischen Staatslehre. Allerdings sind auch Äußerungen des Reformators überliefert, in denen er sich für eine Begrenzung der Macht weltlicher Herrscher ausspricht. Der Großteil evangelischer Christen aber fühlte sich zu einem stabilen Vertrauen in die Obrigkeit verpflichtet. Das hat sich im Kaiserreich vertieft und war meistens mit einer nationalprotestantischen Gesinnung verbunden: antidemokratisch, antikatholisch und auch antijudaistisch.

Bauern liefern Abgaben an den Grundherrn, Aus: Rodericus Zamorensis, Spiegel des menschlichen Lebens, Augsburg 1479. (Quelle: Wikipedia)

Sogar die „Bekennende Kirche“ im Nationalsozialismus, die weithin als ‚regimekritisch‘ galt, beschränkte sich meist auf innerkirchliche Themen, insbesondere die Bekenntnistreue, und stellte Hitler nicht in Frage. Anders handelte ihr profilierter Vertreter Dietrich Bonhoeffer, einer der Verschwörer des 20. Juli. Doch seine Person war noch lange nach dem Krieg in der evangelischen Kirche umstritten. Erst nach 1945 änderte diese ihre Haltung zum Staat grundlegend. Aus einer unkritischen und Waffen segnenden Kirche wurde eine, die sich als kritisches Korrektiv zum Staat versteht.

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Der Hexenwahn

„Ich will der Erste sein, der Feuer an sie legt". Ein Luther-Satz, bei dem Protestanten heute am liebsten vor Scham im Boden versinken würden. Denn Luthers Reden und Predigten haben dazu beigetragen, dass auch noch nach der Reformation Frauen und Männer als Hexen und Zauberer verbrannt wurden.

Luther war – wie fast alle seiner Zeitgenossen – von der Existenz von Hexen und Dämonen überzeugt. Sein ganzes Leben fühlte er sich von bösen Geistern verfolgt. In Wittenberg hinter der Propstei will er persönlich einen Dämon gesehen haben. Später auf der Wartburg rechnete er mit der Gegenwart des Teufels, wenn es irgendwo auch nur polterte, raschelte oder ein schwarzer Hund in seiner Stube stand. Der unermüdlich kolportierte Wurf mit dem Tintenfass nach dem Satan ist aber wahrscheinlich nur eine Legende.

Aus dem Jahr 1526 ist eine brutale Hexenpredigt Luthers überliefert. Innerhalb weniger Minuten hört seine Gemeinde fünfmal, dass man Hexen töten müsse. Luther pflegte und verbreitete diesen mittelalterlichen Aberglauben. Seine Anhänger vernahmen ihn aus dem Mund des Reformators. Der exzessive Höhepunkt der Hexenverfolgung – inklusive Massenhysterien – fand in der Frühen Neuzeit, etwa eine Generation nach Luther statt. Ihre Zahl war in den protestantischen Territorien sogar höher als in den katholischen.

In Hamburg gab es etwa vierzig Hexenprozesse. Auch hier setzte der Höhepunkt der Verfolgung erst Mitte des 16. Jahrhunderts ein – nach der Durchsetzung der Reformation.

Hexenverbrennung zu Derneburg in der Grafschaft Reinstein (Harz) im Jahre 1555, Zeitgenössisches Flugblatt mit Holzschnitt, koloriert (Ausschnitt), Nürnberg (Jörg Merckel), 1555. (Quelle: Wikipedia)

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Der Antijudaismus

Dass der Antijudaismus tief in der reformatorischen Theologie verankert ist, zeigt eine Wanderausstellung der Nordkirche, die im vergangenen Jahr zum ersten Mal in der Ansgarkirche in Hamburg-Ottensen zu sehen war.

Ausgerechnet Martin Luther, der große Reformator, der das Mittelalter an dessen Ende brachte, schrieb einen der dunkelsten, brutalsten und folgenreichsten Texte der Weltgeschichte. Seine Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ kann man als eine Gründungsakte eines neuzeitlichen Antijudaismus lesen. „Ein solch verzweifeltes, durchböstes, durchgiftetes, durchteufeltes Ding ist’s um diese Juden, welche diese 1400 Jahre unsere Plage, Pestilenz und alles Unglück gewesen sind und noch sind. Summa, wir haben rechte Teufel an ihnen.“

Titelblatt von Luthers Schrift Von den Jüden und Iren Lügen (Von den Juden und ihren Lügen), Erstausgabe. Wittenberg (Hans Lufft), 1543, Titelholzschnitt. (Quelle: Wikipedia)Luther, der kaum Juden persönlich kannte, war im Antijudaismus nicht nur Kind seiner Zeit, sondern setzte klar eigene Akzente und trieb die Ablehnung und Ausgrenzung der deutschen Juden voran. In der ersten Phase der Reformation räumte er zwar noch ein, dass Jesus ein geborener Jude gewesen sei. Für ihn waren die Juden danach aber immer nur eine Negativ-Folie, vor der er seine Lehre aufbauen konnte. Die Juden stellten für ihn das personifizierte Gegenteil des reformatorischen Glaubens dar: die Gesetzesreligion, die die Rechtfertigung allein aus Gnade nicht anerkennt, die blind ist und nicht weiß, was in der Bibel steht.

Luther verachtete die Juden nicht nur theologisch. Er empfahl, sie zu ächten und sie als schutzlos und vogelfrei zu behandeln. Einige Forscher sehen deshalb sogar die reformatorische Botschaft mit einem Makel behaftet. Sie meinen, dass ohne Luthers Antijudaismus die Reformation lange nicht so schlagkräftig gewesen wäre. Luther hat den Judenhass als schauerliches Gründungselement des Protestantismus festgeschrieben. Diese radikale, dunkle Seite hat den lutherischen Protestantismus bis ins 20. Jahrhundert geprägt.

Die Nationalsozialisten bedienten sich später bei Luther und initiierten, begründeten und begleiteten mit dem von ihm vorgebildeten Zitat („Die Juden sind unser Unglück!“) letztlich den Holocaust. Der Lutherische Weltbund musste 1983 einräumen, dass sich die Schriften des Reformators „für einen solchen Missbrauch eignen (...) Wir müssen dafür sorgen, dass eine solche Sünde heute und in Zukunft in unseren Kirchen nicht mehr begangen werden kann.“

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Text: Daniel Kaiser