Gesetz und Gnade – Über das Gemälde von Franz Timmermann (1540)

Abb. 1: „Gesetz und Gnade“, Öl auf Eichenholz, 1540, von Franz Timmermann. (Quelle: Hamburger Kunsthalle/bpk, Foto: Elke WalfordDas Gemälde Gesetz und Gnade (Abb. 1) wurde von dem Hamburger Maler Franz Timmermann (1515 bis nach 1541) im Jahre 1540 geschaffen. Zwei Jahre zuvor war Timmermann vom Rat der Stadt nach Wittenberg entsandt worden, um sich in der Werkstatt Lukas Cranachs d.Ä. (1472–1553), mit dem Luther in engem Kontakt stand, fortbilden zu lassen. Timmermanns Ölgemälde gehört zur Gattung der sogenannten Gesetz-und-Gnade-Bilder. Solche Bilder wurden seit den 20er Jahren des 16. Jahrhunderts zahlreich produziert, auch von Cranach. Es handelt sich um einen genuin reformatorischen Bildtypus. Timmermanns Bild ist Lehr- und Andachtsbild zugleich. Denn es fasst die reformatorische Botschaft eindrücklich zusammen und motiviert zugleich zu einer meditativen Versenkung des Betrachters in die gesamte Heilsgeschichte vom Sündenfall bis zum Jüngsten Gericht. Auf diese Weise will das Bild bei der Aneignung und Verinnerlichung reformatorischer Grundgedanken behilflich sein. ’Die Überlegenheit des Bildes im Vergleich zum gepredigten Wort, liegt dabei in der gleichzeitigen Sichtbarwerdung von Ungleichzeitigem. Und doch erfordern die einzelnen Szenen des Bildes eine Dechiffrierung, die schrittweise vorgenommen werden will, um sich sodann wieder zu einem Gesamtbild zu verdichten.

 

Abb. 2: Detailansicht: der Mensch im Rachen der Hölle.Ein Baum, der links kahl ist und rechts grünes Laub trägt (vgl. Lukas 23,31), teilt das Gemälde in zwei Hälften. Die als „Gesetzesseite“ gestaltete linke Bildhälfte wird im Vordergrund von Mose dominiert. Dieser konfrontiert den nackten Menschen in der Mitte mit den Zehn Geboten und führt ihn so zur Erkenntnis, dass er ein Sünder ist und der Vergebung bedarf (Römer 3,20). Nur die Gnade Gottes ermöglicht es dem Menschen, der ewigen Verdammnis und dem am linken Bildrand verorteten Rachen der Hölle (Abb. 2) zu entrinnen. Der Prozess der Sündenerkenntnis ist in Timmermanns Gemälde freilich schon abgeschlossen. Denn der Mensch hat seinen Kopf bereits umgewandt, um glaubend mit gefalteten Händen auf den gekreuzigten Christus zu schauen, auf den eine alttestamentliche Prophetengestalt (vermutlich Jesaja) und Johannes der Täufer weisen. Allein im glaubenden Vertrauen auf den für die sündige Menschheit gestorbenen Sohn Gottes, so die Hauptbotschaft des Bildes, wird der Mensch gerettet.

 

Abb. 3: Detailansicht: Jesus als das Lamm Gottes.Timmermann läßt die Ereignisse, derer an Weihnachten, Karfreitag und Ostern gedacht wird, als aufeinander bezogene sichtbar werden. Die bildkompositorisch kunstvolle Zuordnung des gekreuzigten und auferstandenen Christus auf einer vertikalen Achse entspricht reformatorischer Botschaft: Ostern läßt den Karfreitag nicht ’ungeschehen machen. Vielmehr treten durch den Tod des Gottessohne  überwundenen Verderbensmächte Sünde, Tod und Teufel an Ostern ins klare Licht: Die Siegesfahne des Auferstandenen ist eine Kreuzesfahne. Mit ihr durchsticht Christus den Tod, der auf den Gesetzestafeln liegt und seinen linken Arm auf dem überwundenen Satan ruhen läßt. Die enge Verknüpfung von Karfreitag und Ostern wird bildkompositorisch dadurch noch verstärkt, dass unter dem Kreuz Christus als das Lamm Gottes abgebildet ist (Abb. 3), das die Sünde der Welt trägt (Johannes 1,29.36). Auch das Lamm trägt die Kreuz-Siegesfahne.

Das Bild regt zur Meditation an: Es lädt dazu ein, die einzelnen Motive der rechten und der linken Seite miteinander in Beziehung zu setzen und deren typologische Vernetzung zu entziffern. Der Sündenfall Adams und Evas korrespondiert (antithetisch) mit der Geburt Christi, des neuen Adam (Römer 5,18), aus der Jungfrau Maria. Je mehr man sich in das Bild vertieft, desto deutlicher werden die Verknüpfungen (die ‚Textur‘) der beiden Bildhälften. Sie stehen einander nicht einfach diametral gegenüber. Das wird etwa anhand der Darstellung der Episode von der erhöhten Schlange im Hintergrund der linken Bildhälfte (Abb. 4) deutlich. Dieses Motiv zeigt eine Szene aus der Zeit der Wanderung des Volkes Israel durch die Wüste: Gott bestrafte Israel für seinen Ungehorsam, indem er giftige Schlangen sandte. Nachdem Mose Fürbitte für das reuige Volk bei Gott gehalten hatte, beauftragte Gott ihn, eine erzene Schlange aufzurichten, damit diejenigen, die sie ansehen, gerettet werden (4. Mose 21,4–9). Genau diese Rettungsgeschichte bezieht der Sohn Gottes im Gespräch mit Nikodemus, das im Evangelium des Johannes überliefert ist, auf sich, indem er sagt: „Und wie Mose in der Wüste eine Schlange erhöht hat, also muss des Menschen Sohn erhöht werden, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben“ (Johannes 3,14f.). Im Alten Testament – dies macht Timmermanns Bild in Übereinstimmung mit der reformatorischen Sichtweise deutlich – finden sich zahlreiche Weissagungen des Leidens und Sterbens Jesu Christi, durch das allen, die an ihn glauben, das ewige Heil zuteil wird.


Text: Johann Anselm Steiger

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