St. Pankratius-Kirche in Neuenfelde

  • Die Kirche von Süden. (Foto: J. A. Steiger)
  • Gewölbeausmalung oberhalb der Orgel. (Foto: J. A. Steiger)
  • Engel mit Inschriftenkartusche: Habakuk 2,4. (Foto: J. A. Steiger)
  • Die Arp Schnitger-Orgel. (Foto: Hilger Krespohl)

Gerade erst wurde die Arp-Schnitger-Orgel der St. Pankratius-Kirche in Neuenfelde von der EKD-Stiftung "Orgelklang" zur "Orgel des Monats November" erklärt. Die in den Jahren 1682 bis 1687 erbaute Kirche ist aber nicht nur wegen ihrer berühmten Arp Schnitger-Orgel bedeutend, sondern auch wegen ihrer barocken Ausstattung, die Zug um Zug bis zum Jahre 1731 fertiggestellt wurde. Die Kirche beherbergt den ältesten (1688 fertiggestellten) norddeutschen Kanzelaltar und ist überaus reich mit Inschriften und Bildern ausgestattet, denen ein äußerst durchdachtes Konzept zugrunde liegt. Diejenigen, die sich hier aufhalten – ganz unabhängig davon, welchen Standort oder Blickwinkel sie wählen – haben viel zu lesen und zu sehen und werden sich der gleichsam multimedial dargebotenen Botschaft der Bibel kaum entziehen können. Der Kirchenraum ist somit nicht nur ein Hörraum, in dem Wort, Gesang und Musik zu Ohren gebracht werden, sondern auch ein Lese- und Sehraum, der permanent predigt, auch außerhalb der Gottesdienstzeiten.

Das komplexe Bild- und Inschriftenprogramm kann hier freilich nur ansatzweise gewürdigt werden. Das komplett ausgemalte Holztonnengewölbe der Kirche – eine 1683 geschaffene Arbeit der Hamburger Maler Hinrich Berichau (1677–1716) und Henrich Christopher Wördenhoff – zeigt zahlreiche Engel und lässt die in der Kirche Versammelten gleichsam in ihre himmlische Heimat aufblicken. Über der Orgel sind fünf Engel zu sehen. Sie halten ein Schriftband, auf dem der letzte Vers des Psalters zu lesen steht: „Alles was Odem hat Lobe den Herren Halleluja“ (Psalm 150,6). Die Engel fordern mit diesen Worten die Menschen auf, es ihnen gleichzutun. Hier manifestiert sich eine Grundanschauung lutherischer Musiktheologie, die ihrerseits tief verwurzelt ist in älterer Tradition: Geistliche Musik und Gesang auf Erden gelten als irdische Vorwegnahmen und Präludien des ewigen Lobgesangs und des ewigen Musizierens der Engel, mit denen die Menschen dereinst in ihrer himmlischen Existenz vereinigt werden sollen.

Zahlreiche weitere Bibelzitate geben die im Gewölbe auftretenden Engel auf Spruchbändern oder in Kartuschen zu lesen. In der Nähe des Altarraumes auf der Südseite des Gewölbes halten zwei Putten eine Kartusche mit der Inschrift „Der Gerechte wird seines glaubens leben“. Das Zitat findet sich beim Propheten Habakuk (2,4). Im Neuen Testament wird dieser Vers vom Apostel Paulus im Römerbrief zitiert: „Sintemal darin (im Evangelium) offenbart wird die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben in Glauben, wie denn geschrieben steht: Der Gerechte wird seines Glaubens leben“ (Römer 1,17). Dieser Textstelle kommt mit Blick auf die Reformation eine fundamentale Bedeutung zu.

Martin Luther berichtet in der Vorrede zum ersten Band der Wittenberger Ausgabe seiner lateinischen Werke (1545), die den viel diskutierten Rückblick auf seine reformatorische Entdeckung enthält, er habe lange Zeit nicht nur mit dem Text in Römer 1,17, sondern seinetwegen mit Gott selbst gehadert. „Ich liebte nicht, nein ich hasste den gerechten und die Sünder strafenden Gott und war im Stillen […] mit ungeheurem Murren empört über Gott: Als ob es wahrhaftig damit nicht genug sei, dass die elenden und infolge der Erbsünde auf ewig verlorenen Sünder mit lauter Unheil zu Boden geworfen sind durch das Gesetz der zehn Gebote, vielmehr Gott durch das Evangelium zum Schmerz noch Schmerz hinzufüge und auch durch das Evangelium uns mit seiner Gerechtigkeit und seinem Zorn bedrohe.“

Dieser Konflikt Luthers hatte seinen Grund darin, dass er die Gerechtigkeit Gottes in Übereinstimmung mit spätmittelalterlicher Tradition als eine aktive Gerechtigkeit (iustitia activa) verstand, der zufolge Gott gerecht ist, indem er Gerechtigkeit walten lässt und die ungerechten Sünder straft. Wie aber, so Luther, kann es sein, dass Gott seine strafende Gerechtigkeit nicht nur mit Hilfe des Gesetzes des Mose, sondern obendrein auch im Evangelium offenbart? Erst nachdem Luther sein Augenmerk auf von Paulus aufgegriffene das Zitat aus Habakuk gerichtet hatte, stellte sich bei ihm die Erkenntnis ein, dass man die Gerechtigkeit Gottes anders verstehen müsse: als passive Gerechtigkeit – als eine solche nämlich, durch die Gott dem Menschen allein um seines Glaubens willen Gerechtigkeit schenkt, ihn rechtfertigt. Mit anderen Worten: Der Prophet Habakuk und dessen Wort „Der Gerechte wird seines Glaubens leben“ entschlüsselte Luther nicht nur das rechte Verständnis der Rede des Paulus über die Gerechtigkeit Gottes, sondern schloss ihm überdies die Tür zum Paradiese auf: „Wie sehr ich vorher die Vokabel ‚Gerechtigkeit Gottes‘ gehasst hatte, so pries ich sie nun mit entsprechend großer Liebe als das mir süßeste Wort. So ist mir diese Paulus-Stelle wahrhaftig das Tor zum Paradies gewesen.“

In diesem Sinne ist im übrigen auch die aufwendige Darstellung des Jüngsten Gerichts im Gewölbe über dem Chorraum der Neuenfelder Kirche zu verstehen: Ob der Mensch im letzten Gericht besteht, hängt nicht von dessen Werken ab, die er zu Lebzeiten getan hat, sondern allein von seinem Glauben.


Text: Johann Anselm Steiger