Was feiern wir?

Das ist der Hammer: Vor 500 Jahren veröffentlichte Martin Luther seine 95 Thesen gegen den Ablasshandel. Der Beginn der Reformation. Ob er seine Schrift wirklich an die Tür der Schlosskirche in Wittenberg hämmerte, bleibt fraglich. Viel wichtiger war, dass er sie auch an den Bischof schickte. Und der leitete sie weiter zum Papst nach Rom. Was Luther nicht ahnte: dass seine Thesen eine Zeitenwende einleiteten. Bis heute.

Luther hat hingeschaut. Aber er war kein Heiliger, sondern ein im Mittelalter verwurzelter Mensch. Es wäre unlutherisch, die negativen Seiten auszublenden: Glaubenskriege, Kirchenspaltung, Antijudaismus. Und doch würde unser Leben heute anders aussehen, hätte es Luther nicht gegeben. In unserem Alltag, in unserer Gesellschaft, in der Politik, in den Medien und in der Kirche. Wir haben Grund zum feiern. Was feiern wir?


Glaube

Unvorstellbar: Zu Luthers Zeiten hatten die wenigsten Menschen eine Bibel. Was den Glauben anging, waren sie auf die Priester angewiesen. Diese predigten auf Latein. Das verstanden die wenigsten. Luther setzte auf das Wort der Bibel. Allein darauf sollte der Glaube gründen. Möglichst viele Menschen sollten die Bibel lesen und sie verstehen. Also übersetzte er sie. Er legte damit die Beziehung zu Gott in die Hände jedes einzelnen. Der Mensch wurde mündig. Erwachsen, von „Angesicht zu Angesicht“ konnte er Gott gegenüber treten, ihn lieben, mit ihm hadern. Er war seinem eigenen Gewissen verpflichtet. Das bedeutet Freiheit, Selbstverantwortung und führte Jahrhunderte später über die Aufklärung in die Moderne.


Liebe

„Ich liebe Dich so, wie Du bist“, das ist der schönste Satz, den man sagen kann. Kinder erfahren das – wenn es gelingt – von ihren Eltern: Dass sie angenommen sind mit allem, was zu ihnen gehört. Geborgen, getröstet. So hat Luther auch Gottes Liebe zu uns, seinen Kindern, verstanden. Die Erkenntnis kam ihm beim Lesen der Bibel. Ihm wurde bewusst, dass alles da ist, bevor wir nur einen Finger gerührt haben. Das riesige Geschenk des Lebens, das keimt, sich entfaltet, blüht, Früchte trägt und vergeht, damit neues Leben entstehen kann. Luthers Wut richtete sich gegen eine Kirche, die Geld forderte, damit die Menschen einen Zugang zu dieser Liebe haben. Dem Ablasshandel galt sein Kampf. Dass er am Ende auch überzog, andere klein machte und abwertete – diese andere Seite Luthers lässt sich nicht leugnen. Aus ihr kann aber eine Spannung entstehen, die uns immer wieder genau hinschauen und wachsam sein lässt, wenn es um Diskriminierung geht.


Veränderung

Luther steht nicht alleine da. Er hatte Vorreiter und Weggefährten, wie John Wyclif, Jan Hus, Johannes Calvin und Huldrych Zwingli. Und doch war er der richtige Mann zur richtigen Zeit. Er setzte eine Bewegung in Gang, die unser Leben bis heute prägt: der Sozialstaat, Bildung für alle, die deutsche Sprache, eine Kirche, die von Laien verantwortlich geleitet wird und vieles mehr. Die Schattenseiten: Beliebigkeit, manchmal unübersichtliche Strukturen, eine zersplitterte Kirche. Luther hat das erkannt. Er sagte, die Kirche müsse sich immer wieder reformieren. Nichts bleibt, wie es ist: Das ist ein Wachstumsprinzip. Und vielleicht das einzige, das ewig gilt. Das Ehrfurcht weckt, staunen lässt und auch bescheiden macht. „Wir sind Bettler, das ist wahr“, schrieb Luther kurz vor seinem Tod. Veränderung, das heißt Hoffnung auf bessere Zeiten, auf mehr Gerechtigkeit in der Welt. Auch darum feiern wir 500 Jahre Reformation.    


Sabine Henning