Die Reformation geht weiter

Ein gedanklicher Diskurs mit der Gegenwart – die evangelische Kirche ist eine Kirche im Dialog

von Pastor Dr. Günter Wasserberg, Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland, Leiter der Arbeitsstelle Reformationsjubiläum 2017 im Sprengel Hamburg-Lübeck

 

Denken wir an die Reformation, so verbinden wir damit meistens bestimmte historische Personen und Ereignisse, etwa den berühmten Thesenanschlag Martin Luthers an der Schlosskirche zu Wittenberg am 31. Oktober 1517 oder seinen Auftritt vor dem Kaiser auf dem Reichstag zu Worms 1521. Wir denken also an eine abgeschlossene Zeit und Epoche. Aber zu den typischen Merkmalen der Reformation gehört, dass sie nie abgeschlossen sein kann. Das ist ihr Selbstverständnis. Die Reformation geht immer weiter. Denn die evangelische Kirche muss bereit sein, sich zu öffnen, sich auch in Frage zu stellen und zu reformieren. Dafür wurde der lateinische Satz geprägt: ecclesia semper reformanda, die Kirche reformiert sich fortlaufend. Wie ist das zu verstehen?


1. Was wollte Martin Luther erreichen?

Martin Luther wollte keine neue Kirche gründen, vielmehr wollte er seine Kirche reformieren. Aus heutiger Sicht könnte man sagen: Luther war ein Reformkatholik. Er ist katholisch aufgewachsen und erzogen worden. Er war ein besonders frommer Mann, der gegen den Willen seines Vaters sogar Augustinermönch wurde. Er nahm seinen katholischen Glauben sehr ernst. Aber mit der Zeit sah er auch die Missstände seiner Kirche, die ihm nicht gefielen. Dazu gehörte die damals übliche Praxis des Ablasshandels. Mit seiner Kritik aber war er nicht allein. Viele damals kritisierten die Kirche und ihre Ablassprediger. Es gab also ein weit verbreitetes Unbehagen in der Bevölkerung. Als Luther seine berühmten 95 Thesen veröffentlichte, kritisierte er noch nicht den Ablass als solchen, sondern vielmehr seinen Missbrauch. Er glaubte sogar, dass der Papst einer Meinung mit ihm sein würde. Dass Luther mit seiner Kritik am Ablasshandel eine Riesenwelle lostreten würde, das war ihm zunächst nicht bewusst, denn er wollte ja seine Kirche von innen reformieren. Mehr nicht, aber auch nicht weniger. Erst die scharfen Reaktionen seines Erzbischofes und des Vatikans, die ihn zu einem Widerruf drängten, brachten ihn dazu, nun grundsätzlicher über das Wesen der Kirche und des Papsttums nachzudenken. Das Ende kennen wir: Statt seine Kirche reformieren zu können, führte diese Auseinandersetzung zu einer Kirchenspaltung. Eine neue Kirchen- und Glaubensgemeinschaft entstand, die Geburtsstunde der evangelischen Kirchen.

Aus heutiger Sicht müssen wir durchaus selbstkritisch feststellen, dass Luther mit seinem ursprünglichen Reformvorhaben gescheitert ist, denn als Gründer einer neuen Kirche wollte er eigentlich nicht in die Geschichte eingehen. Aber dass es so gekommen ist, das lag an beiden Seiten und den Umständen der Zeit. Die theologischen Differenzen waren unüberbrückbar. Diese, in Vielem tragische Geschichte wird heutzutage von beiden Seiten, der evangelischen wie der katholischen Seite, selbstkritisch gesehen. Es ist wichtig, die gegenseitigen Verunglimpfungen und Verletzungen aufzuarbeiten. Denn zu den tragischen Folgen der Reformation gehört, dass das erste Reformationsjubiläum 1617 am Vorabend des 30jährigen Krieges stattfand. Er war nicht nur ein Krieg der Machthaber, sondern auch der beiden Konfessionen.

Heutzutage hat sich das Verhältnis der beiden großen Kirchen deutlich entspannt und ist von gegenseitigem Respekt geprägt. Es eint sie weit mehr, als sie trennt! Es ist ein ermutigendes Zeichen, dass die lutherischen Kirchen und die katholische Kirche jetzt mit der Schrift „Vom Konflikt zur Gemeinschaft. Gemeinsames lutherisch-katholisches Reformationsgedenken im Jahr 2017“ ein Dokument vorgelegt haben, in welchem die Gemeinsamkeiten im Vordergrund stehen, die Unterschiede und Differenzen aber nicht verschwiegen werden.


2. Das neue Glaubensverständnis

Luther wuchs in einer Kirche auf, in der neben der Bibel auch der kirchlichen Tradition eine große Heilsbedeutung beigemessen wird. Der Weg zu Gott verläuft über die Kirche. Außerhalb der Kirche gibt es demnach kein Heil. Der Kirche sind von Jesus und den Aposteln die Heilsgaben anvertraut, die sie verwaltet und austeilt. Luther hingegen kommt zu der Erkenntnis, dass wir Menschen keine Kirche für unser Heil brauchen, sondern unmittelbaren Zugang zu Gott haben können. Allein der Glaube zählt. Er stellt die Kirche vom Kopf auf die Füße. Dafür gebraucht er die Formel „Priestertum aller Gläubigen“. Jeder Christ, der glaubt, ist ein Priester. Alle Menschen sind gleich vor Gott. Es gibt keinen Unterschied mehr zwischen dem geweihten Stand eines Priesters (Klerus) und der Gemeinde (Laien). Diese Sicht auf die Kirche war durchaus revolutionär, stellte sie doch das gewohnte Verständnis von Glaube und Kirche in Frage. Nach evangelischem Verständnis baut sich die Kirche von unten her auf. Die Gemeinde entscheidet über alle wesentliche Dinge. Deshalb ist Bildung ein so wichtiger Faktor. Weil nach evangelischem Verständnis die Bibel die alleinige Glaubensgrundlage ist, muss jede und jeder sie auch lesen und verstehen können. Dazu muss aber die Bibel erst einmal übersetzt werden, damit sie in der Sprache des Volkes gelesen werden kann. Das hat Luther getan und ist damit zugleich zum Förderer der deutschen Sprache geworden. An diesem Punkt hat Martin Luther über die Kirche hinaus eine weitreichende, historische Bedeutung für die deutschsprachige Literatur.

Jeder Mensch muss befähigt werden, sich selbst eine eigene Meinung über den Glauben bilden zu können. Denn der Weg zu Gott verläuft nicht über die Kirche, sondern über das Gewissen. Da alle Menschen vor Gott gleich sind, muss Bildung Jedem offenstehen. Deshalb hat die Reformation die Gründung von Schulen gefördert, die sowohl Jungen wie auch Mädchen offenstehen. Zwar wird es noch ein langer Weg bis zu einer völligen Gleichstellung von Mann und Frau sein; eine Pastorin wäre für Luther und seine Zeit undenkbar gewesen. Aber eine erste Grundlage ist durch die Reformation gelegt worden.

Da jeder Mensch vor Gott gleich viel wert ist, kann es auch nicht ausbleiben, dass unterschiedliche Meinungen entstehen. Das hat auch Luther schmerzhaft erfahren müssen. Innerhalb der Reformationsbewegung ist es bald zu Auseinandersetzungen gekommen. Sollen alle religiösen Bilder aus den Kirchen entfernt werden? Soll man für die unterdrückten Bauern politisch Partei ergreifen? Wie verhält sich ein Christ zur Obrigkeit? Sollen Kinder getauft werden oder erst als Erwachsene? Wie ist das Abendmahl zu verstehen? Ist Christus in Brot und Wein selbst anwesend, oder ist das Abendmahl lediglich ein Erinnerungsmal? Was ist der Mensch? Ist er gut oder böse? Hat der Mensch einen freien Willen? Kann er selber über sich und sein Leben entscheiden? All das waren Fragen, die im Zuge der Reformation aufkamen und teilweise erbittert diskutiert wurden. Es war mühsam, einen Konsens herzustellen. Auf ein evangelisches Grundbekenntnis, das Augsburger Bekenntnis von 1530, konnten sich die Reformatoren noch verständigen, aber in manch anderen theologischen und praktischen Fragen herrschte weiterhin Uneinigkeit, so dass es im protestantischen Lager zu einer Aufspaltung kam: So gingen etwa die Schweizer mit Zwingli in Zürich und später mit Calvin in Genf einen eigenen Weg.

Meinungsvielfalt ist also ein typisches Merkmal der Kirchen der Reformation. Da niemand allein die Richtung vorgeben kann, ist das Ringen um eine Einigung umso schwieriger, zumal die bindende Bedeutung der Tradition entfällt. Allein der Glaube, der sich auf die Bibel beruft, zählt. Deshalb kann die Reformation auch kein abgeschlossener Prozess sein – sie geht weiter.


3. Die Reformation geht weiter

Jede Generation muss für sich entscheiden, wie sie das reformatorische Erbe sieht und für ihre Zeit umsetzt. Das gehört zum reformatorischen Selbstverständnis. Kirche ist immer im Werden. Sie ist im Diskurs zwischen den reformatorischen Grundlagen der Vergangenheit und den Herausforderungen der Gegenwart. Deshalb ist die evangelische Kirche aufgeschlossen für Reformen und Neuerungen, denn die Menschen ändern sich und mit ihnen muss sich auch die Kirche ändern und weiter entwickeln. Wenn Luther sagt, man müsse dem „Volk aufs Maul schauen“, so meint das nicht, den Menschen nach dem Mund zu reden, sondern auf die Lebenswirklichkeit der Menschen einzugehen. Denn es ist ihre Kirche und nicht die einer festen, unverrückbaren Tradition. Der Kerngedanke ist hierbei die Gleichheit und Würde aller Menschen vor Gott. Daher lebt die evangelische Kirche von der Beteiligung ihrer Mitglieder. So kann es nicht verwundern, dass sich in ihr unterschiedliche Glaubensprofile und Meinungen wiederfinden. Die evangelische Kirche lebt von einer großen Bandbreite. Das ist ihr Reichtum, erhöht aber auch die Verantwortung, immer wieder nach dem Verbindenden und Verbindlichen zu fragen. Was sind die Grundlagen des Glaubens, und wie können sie heute gelebt und verstanden werden? Die evangelische Kirche ist also in einem guten Sinne eine streitbare Kirche. Sie ist zwar selten Vorreiterin einer gesellschaftlichen Entwicklung, aber sie nimmt die Veränderungen in der Gesellschaft positiv auf.

In der evangelischen Kirche ist es heute selbstverständlich, dass Frauen und Männer gleichen Zugang zum Pastorenamt haben. Diese Selbstverständlichkeit ist mit der Gleichstellung von Mann und Frau biblisch begründet. Hamburg kann mit Stolz darauf verweisen, dass mit Maria Jepsen zum ersten Mal in der Welt eine lutherische Bischöfin gewählt wurde. Das war im Jahre 1992 ein kirchenpolitisch historisches Ereignis. Auch in Fragen der Sexualmoral zeigt sich die evangelische Kirche aufgeschlossen für die Lebenswirklichkeit. Sie bejaht die Sexualität als eine gute Schöpfungsgabe Gottes mit ihren verschiedenen Ausprägungen, zum Beispiel Homosexualität. Der verantwortungsvolle Umgang mit der eigenen Sexualität steht im Vordergrund. Das war auch in der evangelischen Kirche ein längerer Lernprozess, zumal Homosexualität in der Bibel nicht befürwortet wird. Aber die Einstellung zur Sexualität in unserer Gesellschaft hat sich geändert. Wenn Sexualität eine gute Schöpfungsgabe Gottes ist, dann ist auch Homosexualität eine gute Schöpfungsgabe, sofern sie verantwortungsvoll gelebt wird. Hier zeigt sich positiv, dass die Bibel kritisch hinterfragt werden kann, denn Sexualmoral ist immer auch zeit- und gesellschaftsbedingt. Die Bibel wird nicht außer Kraft gesetzt, sondern auf ihren Kern zurückgeführt, die Schöpfungsgleichheit von Mann und Frau. Gott schafft den Menschen so, wie er oder sie ist.

An diesen beiden Beispielen lässt sich gut aufzeigen, was das Wesen der Reformation bis heute ausmacht, den Diskurs mit der Gegenwart auf Grundlage der Bibel. Die Bibel ist kein einsilbiges, unverrückbares Buch, sondern sie erzählt von den vielen, auch unterschiedlichen Begegnungen und Erfahrungen der Menschen mit Gott. Wir heutigen Menschen machen unsere eigenen Erfahrungen. Wir leben in einer anderen Zeit und Welt. Welche Wert- und Glaubensvorstellungen der Bibel können wir übernehmen, welche müssen den heutigen Gegebenheiten angepasst und verändert werden? Die evangelische Kirche ist eine Kirche im Dialog. Sie lebt von der Beteiligung ihrer Mitglieder. Sie ist eine einladende Kirche, offen und lebensbejahend. Daher kann ihr Weg auch nicht abgeschlossen sein – die Reformation geht weiter.


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