Über die Lutherkirche hinaus

Portrait des Desiderius Erasmus von Rotterdam von Lucas Cranach d. Ä, Öl auf Leinwand, ca. 1530 – 1536, Collection Museum Boijmans Van Beuningen. Loan, the Erasmus Foundation. (Quelle: Wikipedia)

Kritischer Zeitgeist

Wir verbinden die Reformation zumeist mit der Person Martin Luthers. Doch auch andere spürten, dass etwas in der Luft lag.

Politisch wie religiös befand sich Mitteleuropa im Umbruch; später wird man diese Epoche als die Schwelle vom Mittelalter hin zur Frühen Neuzeit bezeichnen. Die Renaissance und der Humanismus führten unter anderem zu einer Rückbesinnung auf die Quellen der antiken Philosophen. Deren griechischsprachige Textzeugnisse wollte man nicht mehr allein in lateinischer Übersetzung, sondern in ihrer ursprünglichen Spache lesen und studieren.

Dieser Umbruch hat mehrere Ursprünge und darf nicht allein auf die Wittenberger Reformatoren beschränkt werden. Zu nennen sind vor allem der Humanist Erasmus von Rotterdam, aber eben auch der Theologe und Wegbereiter der Reformation Martin Bucer (1491–1551) in Straßburg, Hyldrych (Ulrich) Zwingli (1484–1531) in Zürich oder zeitlich etwas später Johannes Calvin (1509–1564) in Genf.

Es gab viele Berührungspunkte und Gemeinsamkeiten, aber eben auch deutliche Unterschiede: Erasmus von Rotterdam stritt sich mit Luther über den freien Willen. Thomas Müntzer war sogar bereit, Gewalt anzuwenden, um den entrechteten Bauern zu einem menschenwürdigen Leben zu verhelfen. In der Schweiz lebte und wirkte Zwingli, der sich mit Martin Luther nicht auf ein gemeinsames Abendmahlsverständnis einigen konnte. Calvin bekannte sich zwar zu den Grundzügen der lutherischen Theologie, ging aber doch einen ganz eigenen Weg der Reformation, in dem der praktische Vollzug eines christlich geführten Lebens eine zentrale Rolle spielt.


Ein Zeugnis religiöser Vielfalt in Hamburg: die russisch-orthodoxe Kirche des seligen Prokop im Hamburger Stadtteil Stellingen. (Foto: Bernhard von Nethen)

Hamburger Vielfalt

So hat die Reformation viele verschiedene Persönlichkeiten hervorgebracht. Dank der kirchendiplomatischen Fähigkeiten eines Philipp Melanchthons konnten sich die protestantischen Stände und Mächte auf ein gemeinsames Augsburger Bekenntnis (1530) einigen. Aber die unterschiedlichen Ausprägungen der reformatorischen Bewegung waren nicht mehr aufzuhalten. Viele gingen ihren eigenen Weg. Neue reformatorische Bewegungen im In- wie Ausland kamen im Verlauf der folgenden Jahrhunderte hinzu, so dass sich heutzutage ein differenziertes Bild evangelischen Glaubens zeigt.

In Hamburg setzte sich die lutherische Kirche durch. Andersgläubige durften in der Stadt mit wenigen Ausnahmen nicht ihre Religion ausüben. Der Rat stimmte dem oft nur zähneknirschend zu. Handelte es sich doch zum Teil um wirtschaftlich sehr potente Bevölkerungsgruppen, die er gerne in der Stadt angesiedelt hätte. Stattdessen zogen niederländische Reformierte, Hugenotten aus Frankreich oder Mennoniten ins liberale Altona. Die aufstrebende Konkurrenzstadt zu Hamburg gehörte zunächst zu den Schauenburger Grafen und später zur dänischen Krone. Beide förderten, überwiegend aus wirtschaftlichen Interessen, die Ansiedlung von Andersgläubigen.

Heute gibt es zahlreiche verschiedene Kirchen und Gemeinden in Hamburg. Viele Glaubensgemeinschaften haben erst spät nach Hamburg gefunden, die Mennoniten oder die Reformierten erst 1938 mit der Eingemeindung Altonas durch das Groß-Hamburg-Gesetz. Andere fanden ihren Weg nach Hamburg über den Handel oder den Hafen, wie die Anglikanische Kirche, die Finnische Seemannsmission oder der Koreanisch Evangelische Gemeinde. Viele von ihnen sind zusammen mit der Römisch-Katholischen und der Russisch-Orthodoxen Kirche eingebunden in die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK), die sich über 35 verschiedene Mitgliedskirchen freuen kann. Eine Vielfalt, die zu einer modernen Metropole passt.

Die Englisch-Bischöfliche Kirche am Zeughausmarkt, Stahlstich von James Gray, um 1845. (Quelle: Staatsarchiv Hamburg, Inv. 131-05=26/35)


Text: Günter Wasserberg

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